Teammanagement

Teams mit Dysfunktionen? -Vielleicht auch nur ein Spiegel arroganter Coaches?

Dysfunktion hier, Dysfunktion dort…

All jenen unter euch, die meine Artikel in den letzten Wochen gelesen haben, geht es vielleicht wie mir. Vielleicht könnt ihr das Wort Dysfunktionen auch nicht mehr hören. Was soll das überhaupt, einem Team zu unterstellen, es sei dysfunktional? Und woher kommt dieser Ansatz der fünf Dysfunktionen überhaupt? Interessanterweise entspringt die Ausformulierung tatsächlich der Kultur der sogenannten New Work, genauer gesagt der agilen Welt des Scrum. Unmengen agiler Coaches und Scrum Master referieren (so wie ich in den letzten beiden Wochen) darüber, wie wir die fünf Dysfunktionen bei (Scrum) Teams identifizieren können und welche Maßnahmen zu ergreifen sind , um die jeweiligen Dysfunktionalität auszumerzen.

So weit so gut und das ist ja auch alles fachlich und inhaltlich richtig. Ich habe mich in den letzten Wochen jedoch immer wieder gefragt, warum ich mir mit dieser sachlichen Beschreibung so schwertue. Nach reiflicher Überlegung muss ich einfach zugeben, dass ich am Ende des Tages wohl doch ein ressourcenorientierter Human Factors Trainer und Consultant bin. Der Agile Coach bin ich wohl nur nebenbei. Mein Herz schlägt anders. Wie ich darauf komme? Mir gefällt es nicht, Dysfunktionen an Menschen oder in Teams zu identifizieren und daran zu arbeiten. Ich sage es mal ganz frei nach der von mir so häufig genannten Harvard Professorin Amy C. Edmondson: Kein Mensch steht morgens auf und fährt zur Arbeit, weil er es nicht abwarten kann, dysfunktional zu agieren. In Wirklichkeit ist es doch viel mehr so, dass die allermeisten von uns morgens aufstehen und sich fest vornehmen, ihr Bestes zu geben. Dass dabei nicht immer alles glatt läuft, ist jedem von uns klar. Manchmal ist es sogar strukturell bedingt, aber eines ist es eben immer: menschlich. Verunsicherung und Konfliktvermeidung sind etwas zu tiefst Menschliches und keine Dysfunktion. Vielmehr sehe ich es so, dass dieses normale, menschliche Verhalten, das wir alle mal mehr und mal weniger ausgeprägt an den Tag legen, in unserer neuen, modernen, komplexen und dynamischen Welt die Performance (die individuelle, die eines Teams und auch die einer gesamten Organisation) beeinträchtigen. Dysfunktional ist in diesem Kontext bestenfalls unser Umfeld, unsere Welt, die sich auf geradezu absurde Weise immer schneller zu drehen scheint und an die es sich anzupassen gilt.

Warum ich mir so sehr gewünscht habe, in einem agilen Umfeld zu arbeiten

Als meine Wut auf all diese großen und ruhmreichen Agilisten, die Bücher schreiben und Vorträge halten, wieder ein wenig verraucht war, habe ich mich schließlich gefragt, warum ich denn eigentlich unbedingt in ein agiles Umfeld wollte. Dass ich momentan hauptberuflich als Agile Coach in einer großen Bank arbeiten darf, war ein Traum, der sich über Jahre hinweg in mir entwickelt hat. Dieser Traum hat als absolutes Fundament mein Menschenbild und meine Idee von der Bedeutung des Faktors Mensch in modernen Organisationsstrukturen. Nach vielen Jahren als Human Factors Trainer wurden mir diesbezüglich zwei Dinge glasklar:

  1. Der Mensch ist der absolute Schlüssel zum Erfolg all unserer Systeme!

  2. Menschen machen Fehler, ja! Aber sie tun das nicht, weil sie sich dazu entschieden haben. Vielmehr will jeder von uns zu jeder Zeit sein Bestes geben, sich einbringen und zum Erfolg eines Teams oder einer Organisation beitragen.

Natürlich resultiert aus diesen beiden Feststellungen zwangsläufig die Frage, was Menschen denn dann brauchen, um all ihr Potenzial nutzen zu können. Die Antwort ist ebenso profan wie sie kompliziert ist. Menschen brauchen Vertrauen und Gestaltungsraum. Ja, hört sich einfach an, aber findet das mal in klassischen Wirtschaftsorganisationen, in denen der Chef den Mitarbeitern Boni bietet, weil er denkt, dass sie sonst auf keinen Fall volle Leistung erbringen und gleichzeitig nimmt er ihnen so ziemlich alle Gestaltungsmöglichkeiten, gibt strenge Rahmenbedingungen vor und glaubt noch immer, dass Druck ein gutes Mittel zur Leistungssteigerung sei. Ich habe mir lange vorgestellt, wie eine Organisation aussehen müsste, die genau das anders macht, wie Führung aussehen könnte, die anders vorgeht, Raum lässt und Vertrauen schenkt. Alles das hat mich in die Welt agiler Strukturen eintauchen lassen und ich war irgendwie selig. Alles hat so viel Sinn ergeben: dieser Fokus auf selbst-organisierten Teams und dieser dienenden Führung, die man Neu-Hochdeutsch ja als Servant Leadership bezeichnet, hat mich in den Bann gezogen. Hier habe ich mein Menschenbild wiedergefunden. Die Grundidee aller Agilität liegt meiner Meinung nach darin, dass man den Menschen als kompetent, leistungsbereit, eigenverantwortlich und positiv sieht und ihm deshalb eben auch zutraut, dass er sich selbst im Team bestmöglich organisieren kann, dass er selbst klug genug ist, um sich die für ihn passenden Voraussetzungen für High Performance zu schaffen und vor allem, dass der Mensch nicht kontrolliert werden muss und keine Karotten braucht, die man ihm wie einem Esel vor die Nase hängt, damit er schneller rennt.

Und nach dem Träumen kommt natürlich immer die Realität

Es war dieser Traum, der mir den Mut gegeben hat, mein Leben komplett auf links zu drehen und mich dieser neuen Welt und einem ganz anderen Leben zu stellen. Nach 21 Jahren Flugzeuge im Bauch und Kerosin im Blut plötzlich in einer Bank! Das war und ist verrückt. Nichtsdestotrotz hat mein Traum mir ausreichend Rückenwind gegeben und jetzt stehe ich hier, nach einem halben Jahr als Agile Coach eigentlich noch recht grün hinter den Ohren aber eben auch nicht blind und taub! Um zu lernen habe ich mich natürlich sehr intensiv umgeschaut, in der schönen neuen Welt der Agilität. Ich habe unendlich viele Blogs anderer Coaches gelesen, Bücher, Publikationen, etc. Ich habe viele tolle neue Anregungen und Ideen gefunden, die ich zum Teil auch schon mit meinen Teams umsetze. Ich durfte über Kanban und OKRs lernen, die Struktur eines Obeya kennenlernen und alles das sind tolle Tools und eigentlich finde ich auch mein Menschenbild darin wieder… Eigentlich! Denn parallel musste ich lernen, dass Coaches über Dysfunktionen schreiben und aus einer Perspektive, die ich persönlich gefährlich Arrogant finde, Teams oder Strukturen beurteilen und glauben es gebe Tools und Frameworks, die nach “Schema F” einzuführen sind und schon läuft der Laden! Aber weder Scrum, noch Kanban ist eine Lösung! Die Lösung liegt immer in den Menschen selbst, auch im agilen Coaching! -Sorry Leute, ist eben so! Eine anständige Portion Systemik schadet nicht, wenn ich High Performance Teams und Organisationen schaffen möchte!

Was bleibt ist die Frage der inneren Haltung

Worüber ich mich freue, ist dass ich als Agile Coach frei bin, meinen Ansatz so zu wählen, wie er zu mir passt und wie ich am besten arbeiten kann. Und ich verspreche hoch und heilig NIEMALS mit einem meiner Teams an deren Dysfunktionen zu arbeiten. Meine Teams haben keine Dysfunktionen! Ich schau mir an, worin meine Teams gut sind und worin sie besser werden können, möchten oder vielleicht sogar müssen. Am Ende streben wir doch alle nach High Performance und brauchen immer mal wieder einen Coach, der uns dabei hilft, unsere eigene Performance zu verbessern, was nicht bedeutet, dass wir deshalb schlecht sind. Wir sind immer so gut wie wir sein können. Als systemischer Coach und auch im NLP bekommt man diese innere Haltung ausführlich eingeimpft, weil es anders nicht läuft. Jeder Agile Coach der nicht nur einen guten, sondern einen sehr guten Job machen möchte, ist, so denke ich, sicher gut beraten, sich hinsichtlich seiner eigenen inneren Haltung zu reflektieren. Und diese innere Haltung zeigt sich eben auch in der Perspektive, die wie einnehmen: sehe ich Defizite (und arbeite deshalb mit den fünf Dysfunktionen) oder sehe ich Entwicklungsräume (und orientiere mich deshalb vielleicht aus den Merkmalen der H!PE Formel für High Performance Teams der TU Chemnitz). Inhaltlich ist beides richtig. Es ist nur die innere Haltung, die den Unterschied macht! -Übrigens auch bei euch und in anderen Zusammenhängen!

So! Das musste ich mal sagen!

Habt einen zauberhaft sonnigen Sonntag.

Eure Constance

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alte Karren mit multiplen Dysfunktionen?

-Oder Autos mit dem Potenzial etwas besonderes zu sein?

Führung in Extremsituationen - Agilität an ihren Grenzen?

Agilität - Allheilmittel für alle Fälle?

Agilität und agile Führung oder Servant Leadership sind absolute Trendthemen unserer Zeit. Beides wird nur zu gerne als Allheilmittel für diese so gnadenlose, unbeständige, dynamische und komplexe VUKA-Welt beschrieben. Aber wie viel VUKA darf es denn sein, bis die Ansätze von Agilität und agiler Führung gegebenenfalls an ihre Grenzen kommen, weil eine Situation zu dynamisch wird und am Ende eben doch einer die Verantwortung übernehmen muss?

In der Grundidee von Agilität geht man davon aus, in einem Umfeld navigieren zu müssen, das von hoher Unsicherheit, Komplexität und Dynamik geprägt ist. Auch jede Extremsituation oder Krise ist geprägt von Unsicherheit, Komplexität und Dynamik. Man denke nur an Corona, eine weltweite Extremsituation, die man so noch nie zuvor erlebt hat. Wenn Agilität und agile Führung nun bedeutet, sich flexibel und schnell auf eine neue Situation einzustellen um folglich auch entsprechend schnell zu handeln, dann ist ein agiles Mindset tatsächlich eine Grundvoraussetzung, um in Extremsituationen überhaupt erfolgreich führen zu können. Wer in einer solchen Situation nicht flexibel reagiert und führt, indem er darauf vertraut, dass alle Mitarbeiter eigenverantwortlich, in Teams mit einem hohen Grad an Selbstorganisation reagieren, wird vermutlich scheitern. Die sozialistische Planwirtschaft des Topdown-Managements ist hier zum Scheitern verurteilt.

Agilität an ihren Grenzen

Allerdings erreichen Teams in extremen Situationen oder Krisen häufig sehr schnell die Grenzen der Selbstorganisation. Tobt der Sturm so heftig, dass er droht die Segel zu zerreißen, agieren selbstorganisierte Teams wahrscheinlich zu zögerlich. Was es in dieser Situation braucht sind klare Ansagen und Leitplanken, so wie Handlungsanweisungen und jemanden, der Verantwortung übernimmt. Eigentlich passt das ja überhaupt nicht in die schöne bunte Welt der Agilität. Auf der anderen Seite finde ich, dass es sehr wohl zur Grundidee von Agilität und Servant Leadership passt: Führung fällt situativ dem zu, der die besten Voraussetzungen, Kompetenzen oder die meiste Erfahrung für die jeweilige Situation mitbringt. In einer Studie zu High Performance Teams der TU Chemnitz wird diese Form von Führung als transformational bezeichnet und darf getrost als einer der Schlüssel zu High Performance gesehen werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist jedoch, dass Zuständigkeiten klar geregelt sind. Als Beispiel hierfür führt die Studie der TU Chemnitz unter anderem die Luftrettung an. Hier agieren Teams unterschiedlicher Experten gemeinsam innerhalb eines gesetzten Rahmens. Jeder hat seinen Fachbereich und es ist völlig klar wer den fliegerischen Hut auf hat, wer den medizinischen und wer die größte Kompetenz im Bereich der Rettungstechnik hat. Je nachdem, um was es gerade geht, wechselt die Führung in diesen Teams von einem zum anderen. Zusätzlich hat das Team gemeinsame Regeln, Vorschriften und Anweisungen.

Ein weiterer Aspekt, der Agilität in Extremsituationen an ihre Grenzen bringen kann, ist der Umstand, dass in agilen Umfeldern gerne bis zum Exzess gepredigt wird, dass es darum geht, immer und stets kreativ zu sein, Neues auszuprobieren, Experimente zu wagen, nicht auf bereits ausgetretenen Pfaden zu wandeln und sich stetig neu zu erfinden. Das ist großartig und dafür liebe ich die Idee der Agilität! Allerdings ist es in Extremsituationen und Krisen sinnvoll ein bereits trainiertes und jederzeit abrufbares Handlungsrepertoire zu haben, das einen schnell reagieren lässt, ohne große Denkprozesse. - Quasi eine Art erste Hilfe, die einem die Luft verschafft, um in zweiten Schritt schließlich kreativ sein zu können. Der Wert von Routinen, die Ruhe und Sicherheit im Zustand höchster Dynamik und Komplexität bringen, wird in agilen Strukturen noch häufig unterschätzt. Oft sind es diese Routinen oder auch einfach nur eine klare und bereits im Vorfeld festgelegte Priorisierung, die uns in besonderen Stresssituationen die kognitive Kapazität verschaffen, damit letzten Endes dann doch etwas Großartiges rauskommt.

Flugzeuge und agile Krisen

Ich muss gestehen, dass ich bei meiner Reise durch die Welt von New Work und Agilität immer und immer wieder daran erinnert werde, wo ich her komme und natürlich mache ich immer wieder den agilen Kardinalsfehler (und zwar mit voller Absicht, weil ich es für absolut richtig halte): ich vergleiche, stelle Parallelen fest, schaue mir an, wie man seit Jahrzehnten in der Luftfahrt Dynamik und Komplexität managt, Teams strukturiert und in die Eigenverantwortung und Selbstorganisation führt und natürlich auch, wie Führung in der Luftfahrt geschult und wahrgenommen wird. Natürlich ist die Definition von Erfolg in der Luftfahrt ganz anders als in einer Bank. Aber VUKA ist genau so dynamisch und komplex wie es Flugzeuge sind, die ziemlich flott auf 10 Kilometer Höhe um die Welt düsen! Hinzu kommt, dass sich in diesen Flugzeugen selbstorganisierte Teams befinden, die auf sich gestellt sind, agieren und entscheiden müssen und auch die Art der Führung, wie sie in der Luftfahrt geschult wird, ist nicht wirklich weit weg von dem, was man in agilen Strukturen Servant Leadership nennt. In flachen Hierarchien ist sich der Kapitän jederzeit bewusst, dass seine wertvollste Ressource seine Crew ist, weil einer alleine diese Komplexität der fliegenden Blechdosen niemals überblicken kann. Ein Kapitän ist darauf angewiesen, dass jedes Crewmitglied ein hohes Maß an Eigenverantwortung spürt und wahrnimmt (nennt man Neuhochdeutsch ja gerne Self-Leadership), sich dabei aber jederzeit als Teil eines Teams sieht und sich bewusst darüber ist, dass es in erster Linie immer um den Erfolg des Teams geht und nicht darum, sich selbst zu profilieren.

Ja, Flugzeuge sind anders als Banken und Erfolg sieht in beiden Bereichen ausgesprochen unterschiedlich aus. Aber die Faktoren auf menschlicher Ebene, die eine Organisation erfolgreich machen, sind überall die gleichen und ich stelle fest, dass ich in meiner agilen Welt vieles versuche noch klarer und deutlicher zu implementieren, dass ich auch als Human Faktors Trainer in der Luftfahrt immer wieder gepredigt habe: klare Priorisierung, absolute Transparenz, eine Kultur der psychologischen Sicherheit und eine Führung, die sich vor allem auch darum kümmert, dass das Team bestmögliche Voraussetzungen hat, um Leistung zu erbringen. Hierbei habe ich bereits in den ersten Monaten meiner agilen Reise festgestellt, dass auch agile Teams Leitplanken benötigen und dass man alles das, was sich standardisieren lässt, auch standardisieren und automatisieren sollten. Denn wenn plötzlich ein wirklich wilder Sturm zu toben beginnt, sind es die Automatismen, alles das, worüber wir nicht nachdenken müssen, was uns die kognitive Kapazität gibt, um in Krisensituationen kreativ agieren zu können.

Und Führungspersönlichkeiten braucht es überall

Und wie viel Führung braucht es denn nun in der agilen Welt? Diese Diskussion zwischen Alignment und Autonomy ist allgegenwärtig und was soll man einer Führungskraft, die gerne Servant Leader sein möchte, raten? Nicht einfach! Wobei, eigentlich doch! Wenn der Wind ganz sanft weht und dabei warm die Nase kitzelt, dann läuft der Laden, dann braucht dein Team niemanden, der ihnen sagt, was zu tun ist. Im sanften, warmen Wind fühlt dein Team sich sicher, agiert routiniert und ist dankbar für den Raum, den du ihm lässt. Wird aus dem Wind ein Sturm, wird die Unsicherheit immer größer, liegen die Dinge anders. Wenn ich nicht mehr weiß, was in dieser unbekannten, dynamischen und vielleicht sogar beängstigenden Situation richtig und falsch ist, suche ich förmlich nach Führung. Lieber Servant Leader, in deiner Berufsbezeichnung steht nicht nur Servant, sondern auch Leader und wenn eine steife Brise anfängt dein Team durcheinanderzuwirbeln, dann ist Führung gefragt. Dann geht es darum, mit deinem Team und für dein Team Strukturen zu schaffen, Prioritäten zu setzen und vielleicht sogar mal darum, zu sagen, wie die Segel zu setzen sind. Keine Angst, das ist nicht “un-agil”. Agil ist zu sehen, was es wann braucht und entsprechend situativ zu agieren. Einen besseren Dienst am Team gibt es nicht! Also nur Mut, lieber Servant Leader!

Bei mir weht übrigens gerade gar kein Wind. Dafür scheint die Sonne und ich gehe wandern! Habt einen schönen Sonntag!

Eure Constance

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Die Ruhe vor dem Sturm?

Manchmal braucht es einen Kapitän auf der Brücke und keinen Kammerdiener

Ist ja alles schön und gut mit diesem Team-Gedöns, aber...

Aus der beliebten Rubrik: Alltag eines Agile Coaches

Nachdem ich in meinen wöchentlichen Blog-Artikeln ja häufig von der Theorie berichte, mit der ich mich gerade beschäftige, ist es heute mal wieder an der Zeit, ein wenig aus der Praxis und den damit verbundenen Grenzen der Theorie zu erzählen.

Als Agile Coach begleite ich Menschen durch den Transformationsprozess ihrer Organisation, weg von den klassischen Top-Down-Management-Strukturen hin zu Unternehmensstrukturen, die ihren Menschen, ihrem Humanvermögen, Raum geben, um deren volles Potenzial auszuschöpfen. Was sich einfach anhört, ist in der Praxis ganz schön schwierig! Diese neue Autonomie schreit förmlich nach Eigenverantwortung, Selbstführung, Eigeninitiative, Mut, Selbstreflexion und so weiter und so fort. Ich sollte also in einem guten und ehrlichen Kontakt mit mir selbst sein. Gleichzeitig ist jedoch das absolute Verständnis eines Kerngedankens die Voraussetzung, um in dieser dynamischen und komplexen Welt der New Work bestehen können: der wahre Star in unserer neuen Arbeitswelt ist das Team! Will ich erfolgreich sein, muss ich verstehen, dass meine wertvollste Ressource mein Team ist. Egal wie gut ich bin, die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Team erfolgreicher sind, als ich allein, liegt bei fast hundert Prozent!

Nun haben wir also im Idealfall eine Gruppe von Menschen, die sich autonom, eigeninitiativ, (selbst-) kritisch, mutig selbst führen und dann kommt der Coach und erzählt ihnen, dass das ja alles schön und gut sei, wenn sie jetzt jedoch wirklich erfolgreich sein wollen, müssen sie es schaffen, sich mit all diesen Eigenschaften in ein Team zu integrieren und fortan mit den Kollegen zusammen zu arbeiten…

Die Magie der neuen Perspektive

Warum Teams für gewöhnlich erfolgreicher sind, lässt sich ganz schnell und einfach mit der Physiologie unserer Wahrnehmung erklären: unsere zauberhafte Blackbox, die wir Gehirn nennen, verarbeitet nur etwa fünf Prozent all der Reize, die durch unsere Sinne eingesammelt werden, so, dass sie in unser Bewusstsein rutschen. Das, was wir als unsere individuelle Wahrheit bezeichnen, sind gerade mal fünf Prozent von dem, was tatsächlich ist. Diese fünf Prozent werden inhaltlich durch unsere Erfahrungen, unser Wertesystem, unsere Erziehung, unseren Präferenzen, etc. bestimmt. Wenn es also darum geht, in einem komplexen und dynamischen Umfeld zu entscheiden, ob es rechts oder doch lieber links herum gehen soll, ist es eine ziemlich gute Idee, sich eine zweite, dritte oder vierte Meinung zu holen. Im besten Fall frage ich sogar Menschen die ganz anders sind, als ich selbst, mit anderen Erfahrungen, einem anderen Hintergrund und einer anderen Meinung. Mit etwas Glück hat deren Gehirn sich ganz andere fünf Prozent der Realität herausgesucht, um sie auf eine bewusste Ebene zu heben.

Toll! Und jetzt haben wir den Salat der X verschiedenen Meinungen… Entscheidungsfindung im Team

In der letzten Woche hatte ich gleich mehrere Workshops, Diskussionen und Coachings, die Teamwork und Teambuilding zum Thema hatten und meine Argumente für mehr Team schienen geradezu entwaffnend! Sobald es jedoch an die praktische Umsetzung ging, habe ich immer wieder gemerkt, dass meine Kollegen wirklich bemüht waren, oft aber keinen bewussten Hebel hatten, die Team Idee in die Praxis zu transferieren. Wie löst man denn nun ein Problem im Team? Wie trifft man eine Entscheidung? Hier gab es zwei Herangehensweisen, die man aus einem anderen Kontext kennt: entweder der Chef entscheidet, oder es gibt eine demokratische Abstimmung… beide Wege scheinen nicht optimal, was meinen Teilnehmern auch irgendwie klar war. In unserer modernen und komplexen Arbeitswelt sind es schon lange nicht mehr die Vorgesetzten, die alles am besten wissen und können. Unternehmen geben Unsummen für ausgezeichnet qualifizierte Experten aus, aber wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen gehen sie zwischen Führungskräften und der Mehrheit unter? Das erscheint mir ausgesprochen ungünstig (und unrentabel)! In meiner alten Welt, der Luftfahrt, die als High Risk Environment gilt, sind derartige Entscheidungsfindungsprozesse lebensgefährlich. Wenn es also um erfolgreiche und vor allem analytische Entscheidungsfindungsprozesse geht, darf man getrost mal schauen, wie Flugzeugbesatzungen zu ihren Entscheidungen kommen. Immerhin hat man hier schon Ende der siebziger Jahre festgestellt, dass der größtmögliche Erfolg in einem dynamischen und komplexen Umfeld daraus resultiert, dass Crews als Teams zusammenarbeiten und die Kollegen die eigenen größtmögliche Ressource darstellen, wenn gerade mal wieder alles im Chaos liegen zu scheint.

Ein analytischer Entscheidungsfindungsprozess, der alle zur Verfügung stehenden Perspektiven berücksichtigt, muss her

Was in der Luftfahrt her musste (und was die agile Welt unbedingt noch braucht), war ein analytischer Entscheidungsfindungsprozess, der für Teamstrukturen nutzbar ist. Kluge Menschen haben sich FOR-DEC ausgedacht. Hört sich komisch an, ist aber ganz einfach, verblüffend einfach…

FOR-DEC ist ein Akronym, das man aus man aus den Worten “befor decision” entwickelt hat und Einzelpersonen oder eben auch ganze Teams durch einen Entscheidungsfindungsprozess führen soll. Es gilt, sechs Phasen abzuarbeiten:

  1. F steht für Facts: hier geht es darum alle verfügbaren Fakten zu sammeln. Im Flugzeug ist es durchaus möglich das einer der entscheidendsten Fakten nur von der jungen, frisch ausgebildeten Stewardess in der hinteren Bordküche wahrgenommen wird. Komplexität eben. Fakten kann man formidabel im Team sammeln. Was man im Rahmen der Faktensammlung jedoch unbedingt beachten muss ist, Annahmen nicht mit Fakten zu verwechseln. Denkt mal drüber nach!

  2. O steht für Options: Habe ich alle verfügbaren Fakten beisammen, schaue ich mal, welche Optionen es gibt. Auch hierbei darf man das Team befragen. Und Achtung: meistens gibt es mehr als zwei Optionen. Hier können andere Perspektiven ausgesprochen bereichernd sein!

  3. R steht für Risks and Benefits, denn jede Option hat Vor- und Nachteile. Auch an dieser Stelle können Teammitglieder Vor- oder Nachteile sehen, deren ich mir vielleicht gar nicht bewusst bin.

  4. D steht für Decision, denn jetzt liegen die Karten auf dem Tisch, deshalb muss die Entscheidung her. Wer sie trifft? Der, der sie auch verantwortet. In kleinen Dingen ist das jeder selbst, in seinem kleinen Bereich. In größerem Rahmen ist es traditionell oft der Chef, oder in der Luftfahrt dann der Kapitän. Allerdings wird jede Entscheidung nur so gut sein, wie die Fakten, auf welchen sie basiert. Aus diesem Grund rufe ich dazu auf, nicht über die Entscheidung, die andere getroffen haben, zu meckern, sondern sich selbst lieber mal kritisch zu hinterfragen, ob ich denn auch alle Fakten dazu beigetragen habe, um diese Entscheidung so gut wie möglich werden zu lassen.

  5. E steht schließlich für Execution, da man alle Entscheidungen ja auch irgendwann mal umsetzen muss. Hierbei ist es sinnvoll, Aufgaben klar zu verteilen und möglichst transparent zu machen.

  6. Nach der Umsetzung ist man ja eigentlich fertig. Trotzdem kommt unter Punkt sechs das vielleicht wichtigste des gesamten Prozesses. C steht für Check. Nach der Umsetzung ist es nämlich unglaublich wichtig, zu überprüfen, ob denn meine Entscheidung auch zum gewünschten Resultat geführt hat. Und wenn nicht, dann haben mir wohl Fakten gefehlt, oder vielleicht hat sich die Ausgangssituation verändert (soll passieren, in einem dynamischen Umfeld). Dann geht es einfach wieder zurück zu F und das Spiel geht von vorne los. So kann einem das FOR-DEC Modell sogar die Angst vor vermeintlich falschen Entscheidungen nehmen. Die gibt es nämlich in dynamischen und komplexen Systemen nicht.

So einfach und doch so schwer

Wenn man das so liest, erscheint ein Studium der Raketenwissenschaften nicht unbedingt als Voraussetzung dafür, FOR-DEC zu verstehen und durchzuführen. Für sich ganz allein durchläuft sicher jeder von uns diesen Prozess immer wieder, mal bewusst, mal ganz unbewusst. Das spannende ist, dass man durch FOR-DEC recht einfach und vor allem auch ohne Emotionen und Rechthaberei mehrere Menschen in den Entscheidungsfindungsprozess mit einbeziehen kann. Es geht nicht ums Recht haben, um Erfahrung, Bauchgefühl oder um das beste Durchsetzungsvermögen. Es geht um Fakten, so wie eine gemeinsame Analyse diese Fakten und ganz nebenbei bietet FOR-DEC all jenen, die in Führungsverantwortung sind, die tolle Möglichkeit, alle Ressourcen, die das Team einem zur Verfügung stellt, auch zu nutzen. In der Luftfahrt ist das tatsächlich überlebenswichtig. In meiner neuen Welt kann ich dieses Drohszenario leider nicht nutzen. Erfolg, vor allem aber Misserfolg kann hier einfacher relativiert werden, als in einem High Risk Environment wie der Luftfahrt. Ein Flugzeugabsturz ist etwas Absolutes. Bilanzen und Zahlen sind irgendwie relativ. Aber Fakt ist, dass die Faktoren, die ein Team oder eine ganze Organisation letzten Endes erfolgreich machen, auf menschlicher Ebene immer die gleichen sind. Teammanagement und die tatsächliche Nutzung des Humanvermögens eines Teams oder einer Organisation spielen in einer komplexen und dynamischen Umwelt eine immer entscheidendere Rolle.

Und jetzt weg mit den Würfeln und hin zu mehr Analyse!

Ich bin gespannt, was all jene, die in der letzten Woche irgendwie keine wirklich Alternative zur Top-Down-Entscheidung oder zur Basisdemokratie sahen, sagen werden, wenn ich ihnen FOR-DEC vorstelle! Dieses Würfelspiel der Entscheidungsfindung hat mir einfach zu viel mit Glück zu tun. Deshalb seid auch ihr von Herzen dazu eingeladen, im Rahmen eurer nächsten Entscheidung nicht nur eure eigenen Fakten zu sammeln, sondern auch einmal nachzudenken, ob es noch jemanden gibt, der vielleicht eine andere Perspektive und andere Fakten für euch hat.

Eure Constance

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Würfelt ihr noch

Oder entscheidet ihr schon?