High Performance Teams

Next Level Führung: Vulnerable Leadership als Frage zur und Antwort auf die schöne neue Welt im Business

Wieviel Persönlichkeitsentwicklung darf ich als Coach erwarten?

Ich gebe zu, als ich zum ersten Mal in einer Überschrift zu einem Artikel über erfolgreiche Führung gelesen haben, dass der neuste, heißeste Scheiß nun “Vulnerable Leadership” sei, war ich nur mäßig begeistert. Reicht es nicht, wenn ich mit Begriffen wie Servant Leadership, Humble Leadership, Managerial Coaching und True Leadership um mich schmeiße? Irgendwann werfen mich die Führungskräfte, die ich begleite, einfach raus! -Und ich könnte es verstehen. Wieviel “Changeability” darf ich als Coach und Consultant erwarten und wann überspanne ich den Bogen?

Aus Neugier habe ich trotzdem weitergelesen und ja, es stimmt, das Thema Verletzlichkeit taucht in den letzten Monaten zunehmend als DIE Führungsqualität immer wieder auf, egal ob in Fachartikeln, Konferenzen oder Podcasts. Es scheint, als sei diese Eigenschaft besonders in Krisen oder Situationen mit hoher Dynamik und Komplexität von großem Nutzen.

Verletzlich und stark zu gleich?

Natürlich ist die Frage berechtigt, ob ich gerade in Krisen nicht eher eine Führungskraft benötige, die stark vorweg geht und mir so Sicherheit gibt. Kann mir jemand, der sich verletzlich zeigt das Gefühl von Sicherheit geben? Keine Ahnung! Ich formuliere die Frage mal anders: Kann mir jemand, der ebenso fehlbar ist, wie ich selbst es bin, das Gefühl von Nähe oder Nahbarkeit geben? Und gibt mir das dann zusätzliches Vertrauen? Und wächst über dieses Vertrauen auch mein subjektiv empfundenes Sicherheitsgefühl an? Noch eine Frage habe ich: Braucht es nicht verdammt viel Mut und Stärke, seine eigenen Unzulänglichkeiten offen zu teilen?

Entlastung durch Verletzlichkeit

Während der Corona-Pandemie hat der Abwesenheitsagent einer weiblichen Führungskraft bei Microsoft für einiges an Aufsehen gesorgt. Es war zu lesen, dass die Dame im Homeoffice arbeite, was in ihrem Fall bedeute, dass sie in einem Haus voller pubertierender Teenager und Eltern sei, die abwechselnd in Lebenskrisen geraten. Arbeiten bedeute für sie gerade, Mails dreimal lesen zu müssen um sie zu verstehen. Aus diesem Grunde bitte sie um Geduld hinsichtlich ihrer Antwort.

Die Intention diese Abwesenheitsnotiz war natürlich, sich selbst zu entlasten und Raum zu schaffen, indem ein glasklares Erwartungsmanagement betrieben wurde. Smarte Taktik. Denn wer sich nicht ständig schützen und verteidigen muss, hat mehr Zeit für seine eigentliche Arbeit. Was jedoch zusätzlich passierte war, dass viele Kollegen sich durch diese Nachricht direkt an ihre eigenen Homeoffice-Situation erinnert fühlten. Es kam also zu einem ausgezeichneten Identifikationsangebot, was unglaubliche Nähe aufbaut. Zusätzlich hat die Verfasserin sich als Mensch erlebbar gemacht, auch für alle “Nicht-Eltern”, was ebenfalls Nähe aufbaut.

Diese Form der Selbstoffenbarung erfordert natürlich verdammt viel Mut, neigen wir Menschen doch dazu uns lieber auf mögliche negative Konsequenzen unseres Handelns zu fokussieren. Natürlich kann es auch passieren, dass Selbstoffenbarungen negativ aufgenommen werden, jedoch wiegen die positiven Effekte besonders im organisationalen Kontext deutlich höher.

Wie wirkt sich Vulnerable Leadership aus?

Im Prinzip ist Vulnerable Leadership, bzw. die dahinterstehende Verletzlichkeit eine der Säulen für das, was die Harvard-Professorin Amy C. Edmondson als Psychological Safety beschreibt. Diese subjektiv empfundene Sicherheit auf Ebene jedes Mitarbeitenden ist die absolute Voraussetzung dafür, dass Organisationen nachhaltig erfolgreich in einem dynamischen und komplexen Umfeld agieren können. Nicht zu Letzt das Projekt “Aristoteles”, mit dem Google seinerzeit bewiesen hat, dass der Unterschied zwischen besonders erfolgreichen und eher durchschnittlichen Teams das Level der subjektiv empfundenen Sicherheit der einzelnen Teammitglieder war, hat diesen Zusammenhang glasklar bewiesen. So wird Psychological Safety zunehmend zu einem Heiligen Gral der Unternehmen. Denn Hochleistung ist natürlich das was alle wollen und so fragen sich die Wirtschaftsorganisationen auch zunehmend, wie man die Rahmenbedingungen dafür schaffen kann, dass sich diese sagenumwobene Psychological Safety auch in ihren Reihen einstellt. Tja, liebe Unternehmen, legt euch vulnerable Führende zu. Professor Adam Grant hat hierzu gemeinsam mit seinem damaligen Doktoranden Constantinos Coutifaris eine Studie mit Führungskräften durchgeführt, in deren Rahmen sie die Probanden in vier Gruppen einteilten. Die erste Gruppe war aufgerufen, ihre Teams regelmäßig um Feedback zu ihrem Verhalten zu bitten. Gruppe zwei musste ihren Teams von negativen Feedbacks, die sie selbst von ihren Führungskräften bekommen haben, erzählen. Gruppe drei sollte beides tun und Gruppe vier war die Vergleichsgruppe, die nicht anders machen sollte als bisher. Nach einer Woche waren keinerlei Veränderungen messbar, nach einem Jahr jedoch war eine deutlich verbesserte subjektiv empfundenen psychologische Sicherheit bei denjenigen Teams messbar, deren Führungskräfte von eigenen Misserfolgen berichteten. -Unabhängig davon, ob diese Führenden noch zusätzlich um Feedback gebeten haben, oder nicht.

Nun braucht es also Leader mit Mut

An der Universität in St. Gallen kam man in einer ähnlichen Versuchsreihe zu ähnlichen Ergebnissen. Der verantwortliche Professor Wolfgang Jenewein kam über diese Arbeit zu der Empfehlung, Unternehmen sollen bei der Auswahl ihrer Führungskräfte vor allem darauf achten, Menschen einzustellen, die mutig genug sind, sich verletzlich zu zeigen. Jenewein nennt das “Egostärke”. Konkret benennt die Studie aus St. Gallen, dass es Chefs brauche, die in der Lage seien, mit eigenen Fehlern offen und transparent umzugehen und Zweifel oder kritische Situationen im Unternehmen anzusprechen. Zusätzlich müssten die Führungskräfte verfügbar sein und sich Zeit für ihre Teams nehmen. Nur ganz am Rande erwähnt, leiten die Forschenden aus ihrer Arbeit klar ab, dass Frauen diese Form von Egostärke und Empathie deutlich häufiger mitbringen als Männer… Jenewein geht sogar so weit, Unternehmen zu empfehlen, aus benannten Gründen Frauen bewusst in Richtung Führungspositionen zu fördern.

Weinende CEOs im Townhall mit 500 Mitarbeitenden?

Wie weit darf diese Verletzlichkeit jedoch gehen? Wo sind Grenzen? Ich stelle mir ein Townhall mit dem CEO meines Unternehmens vor, der angesichts der wirtschaftlichen Lage coram publico in Tränen ausbricht. Nein, das fühlt sich nicht gut an, Identifikationsangebot hin oder her. Ich würde sofort von Angst und Sorgen überflutet werden. Beruhigend fände ich jedoch, wenn dieser CEO in seinem Team aus Führenden offen sagen würde, wenn er Hilfe braucht oder nicht weiterweiß.

Wie finden Führende nun also die richtige oder angemessene Balance zwischen Verletzlichkeit und Stärke? Tja, wahrscheinlich ist es am Ende ein großer Lernprozess, der ganz sicher viel Mut braucht, um sich auszuprobieren und seinen eigenen und damit auch authentischen Weg zu finden.

Beispiele gibt es inzwischen einige. Mit CultureAmp, einer Australischen Plattform für Employee Experience, gibt es inzwischen sogar ein Unternehmen, das den Mut zur Verletzlichkeit als Basis für den Verhaltenskodex des Unternehmens gewählt hat, und zwar ganz bewusst. So werden Mitarbeitende immer wieder ermutigt, Ideen zu äußern, ohne Angst davor zu haben, dass es falsch sein könne, denn scheitern gehört zur Firmenkultur. Es entsteht eine wirklich offenen Feedback-Kultur aus der wiederum eine transparente Fehlerkultur entsteht. Denn eine jede offene und ehrliche Fehlerkultur setzt voraus, dass nicht nur das Lernpotenzial von Fehlern anerkannt wird, sondern auch der subjektive Schmerz des Scheiterns.

Tja, so beginnt auch der lange Weg hin zur lernenden Organisation mit einem ersten kleinen Schritt, der so simpel und so unglaublich schwer ist, wie die Worte “ich kann nicht mehr und brauche Hilfe…”.

Habt einen wunderschönen Sonntag.

Eure Constance

Die ideale Führungskraft

Wie sieht sie aus?

Kann konsequente Agilität das Ende von Innovation bedeuten?

Zum Einstieg geliehene Worte eines klugen Mannes:

“Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt, schnellere Pferde.”

Das sprach Henry Ford vor mehr als einem Jahrhundert. Seitdem hat sich viel getan. Inzwischen erobern Elektroautos, hybride Autos und was weiß ich was die Welt! Überhaupt spielt Mobilität eine große Rolle, auch wenn die Bedeutung des Autos selbst in der Veränderung begriffen zu sein scheint.

Aber heute soll es keinesfalls um Autos oder Mobilität gehen! Fords Zitat bietet mir lediglich einen formidablen Einstieg in das Thema Innovation und Kundenzentrierung. Beides spielt im Business-Umfeld eine zunehmend große Rolle und besonders die Kundenzentrierung sollte mir als Agile Coach und Scrum Master ganz besonders am Herzen liegen! Und ja, es ist super wichtig, dass wir uns mit dem, was wir tun, an unseren Kunden orientieren, denn immerhin tun wir es ja für sie. Aber ist das wirklich der Weisheit letzter Schluss? Mit dieser Frage habe ich mich in der letzten Woche immer wieder beschäftigt und möchte meine Gedanken an dieser Stelle gerne mit euch teilen.

Und alle sind ja so agil!

Die Bezeichnung agil ist inzwischen im geschäftlichen Umfeld gefühlt omnipräsent geworden! Unternehmen sind agil, Teams sind es, Menschen sind es, sogar Mindsets sind inzwischen agil geworden. Aber was bedeutet das überhaupt? Als vor gut zwanzig Jahren das sogenannte Agile Manifest Einzug in Wirtschaftsorganisationen hielt, handelte es sich dabei um eine neue, effiziente Art der Softwareentwicklung. Es ging darum, im Gegensatz zu den bis dato üblichen Wasserfallmodellen, Software besser und schneller ausliefern zu können, um den Kunden dementsprechend schneller zufrieden zu stellen. Software wird seitdem inkrementell, das heißt in vielen kleinen funktionalen Teilstücken, ausgeliefert. So ist der Kunde intensiv in den Entwicklungsprozess eingebunden, gibt die Richtung vor und ist sogar im laufenden Prozess in der Position diese Richtung zu ändern oder anzupassen. Eines der Kernziele agiler Softwareentwicklung ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierlich Lieferung von funktionsfähiger und wertvoller Software zufrieden zu stellen. -Kundenzentrierung eben!

Schauen wir uns also an, für wen Agilität in ihrer ursprünglichen Form entwickelt wurde, stellen wir schnell fest, dass es sich hierbei um “Zulieferer” handelt, deren Ergebnis im Vorfeld vom Kunden möglichst detailliert definiert und umrissen wurde. Genau dafür ist Agilität großartig! Scrum ist in diesem Zusammenhang ein unglaublich wertvolles Tool.

Allerdings war Agilität im Allgemeinen und Scrum im Speziellen derart erfolgreich, dass es inzwischen zu einer scheinbar inflationären Modeerscheinung geworden ist. Als Coach würde ich mir an der ein oder anderen Stelle tatsächlich wünschen, Agilität nicht auf Teufel komm raus umsetzen zu wollen, sondern sich bewusst zu hinterfragen, macht Agilität hier Sinn? Was sind die Vor- und Nachteile? Brauchen wir vielleicht etwas ganz anderes, um auch weiterhin am Markt erfolgreich bestehen zu können? Und bedeutet Agilität die Umsetzung agiler Modelle und Methoden?

Lässt man sich dieses Zitat von Henry Ford nochmals ganz genüsslich auf der Zunge zergehen, stellen wir fest, dass wir den Erfolg ganzer Unternehmen und Unternehmenssparten keinesfalls ausschließlich in die Hände von “Auftragsarbeitern” legen sollten. Ich denke weder ein Steven Jobs noch ein Elon Musk haben ihre großen Innovationen Hand in Hand mit deren Kunden entwickelt. Denn Kunden können häufig gar nicht einschätzen, was möglich ist. Kunden können Ideen zu stetigen Optimierungen einbringen, um das Produkt bestmöglich an deren Bedürfnisse anzupassen. Kunden können den Entwicklern helfen, zu verstehen, was sie wirklich brauchen und wofür. So sind Entwickler permanent in der Lage, ihr Produkt zu verbessern! “Inspect and adapt” nennt das der Agilist von Welt! Aber ist das wirklich innovativ? -Oder wie es der großartige Oren Hariri einmal beschrieben hat: “Elektrisches Licht entstand nicht durch die permanente Verbesserung der Kerze.” Recht hat er!

Denn Visionen passen nicht in Scrum Zyklen

Sind wir mal ehrlich, Kunden hätten sich weder Elektrizität, noch Autos, das iPhone oder den PC vorstellen können! Was es braucht, wenn wir von Innovationen sprechen, sind Menschen, die sich nicht fragen was der Kunde will, sondern womit man den Kunden überraschen kann. Es braucht Menschen, die sich Fragen welche Innovationen globale Probleme lösen, selbst Probleme, die der potenzielle Kunde Stand heute noch nicht sehen kann. Danach kann man gerne irgendwann im Rahmen des Entwicklungsprozesses anfangen mit agilen Methoden zu arbeiten (macht Apple ja auch).

Schauen wir uns an, was in dieser digitalisiert und globalisierten Welt los ist, in der alle Krisen und Katastrophen früher oder später auch Einfluss auf unser ganz individuelles Leben haben, bin ich fest davon überzeugt, dass es zukünftig nicht darum gehen wird, Bestehendes zu optimieren oder weiterzuentwickeln. Vielmehr wird es darum gehen, Dinge neu zu denken und diesen großen Geistern, die dazu in der Lage sind, den Raum und die Möglichkeiten zu geben, genau das zu tun. Agilitätsmodelle können natürlich auch hier eine Rolle spielen, aber sicher ist, dass sie nicht die Lösung sein werden. Aus meiner Sicht sind Unternehmen gut beraten, sich nicht blindlings auf alle möglichen Agilitätsmodelle zu stürzen, im festen Glauben, dass die dadurch zukunftsfähig werden. Es gehört mehr dazu. Der reinen Lehre von Agilität (selbst Teilen des klassischen agilen Mindsets) sind klare Grenzen gesetzt. In einer post-agilen Welt, so wie ich sie mir wünsche, werden diese Grenzen auch gesehen und verstanden und agile Methoden werden da genutzt, wo sie einen Mehrwert bringen. In meiner post-agilen Welt müssen Organisationen nicht mehr zu komplett agilen Organisationen transformiert werden. Ich stelle mir lernende Organisationen nach der Idee der Harvard Professorin Amy C. Edmondson vor, die sich stetig aus sich heraus entwickeln und selbst sehen, wann es wo und wie Sinn macht, auf agile Methodik zurückzugreifen.

Es sind lernende Organisationen, die durch eine gut funktionierende und ehrlich Feedbackkultur ihren Mitarbeiten das Sicherheitsgefühl geben, dass diese brauchen, um frei und “out of the box” zu denken, um kreativ und verrückt zu sein, innovativ und offen für alle Veränderungen die tagtäglich auf einen einprasseln. Aus Sicherheit entsteht Mut und aus Mut entsteht Innovation!

Es gibt sie, diese Organisationen...

Natürlich bin ich gefühlt permanent auf der Suche nach Organisationen, die Agilität frei umsetzen; genauso eben, wie sie es benötigen, um in ihrem Bereich zu High Performern zu werden. Diese Suche treibt mich zuweilen in komplett ungewöhnlich Ecken. Gegenwärtig lese ich über die agile Transformation der US Army! Ja, ihr lest richtig! Und wer jetzt glaubt, dass Servant Leadership und die steilen Hierarchien von Streitkräften nicht zusammenpassen, der darf nächste Woche gerne reinlesen. Ich denke bis dahin weiß ich genug, um darüber zu berichten! Sicher spannend für all jene, die in hierarchischen, ggf. sogar international aufgestellten, traditionellen Großkonzernen das Wagnis Agilität durchdenken oder sogar durchleben!

Habt einen schönen Sonntag! Ich beschließe mit den weisen Worten Immanuel Kants, der da postulierte: “Sapere Aude!” -Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Seid innovativ und mutig genug, über den Tellerrand hinaus zu denken und lasst euch nicht in Formen stecken, die euch nicht passen!

Eure Constance

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Schnellere Pferde…

Perfekt als Hobby, aber kein Ersatz für wirkliche Innovation

Der Shruggie - agiles Denken 2.0, oder wenn Coaches loslassen müssen

Weil loslassen in der Praxis doch schwerer ist, als in der Theorie

Es gibt Tage, an denen bin ich ausgesprochen froh, keine eigenen Kinder zu haben! Nicht der Anstrengung und der Sorgen wegen, sondern weil ich manchmal glaube, dass ich keine einfache Mutter wäre… Etwas, das Mütter ab dem Moment, in dem ihr Kind auf der Welt ist, leisten müssen, damit das liebe Kleine im späteren Leben gute Chance hat, erfolgreich durch diese wilde Welt zu navigieren, ist Schritt für Schritt loslassen. Das geht damit los, dass das Baby seine Flasche allein halten kann (und auch will!), irgendwann kann es alleine zur Toilette und schwupps ist es ausgezogen und macht sein eigenes Ding. Bis dahin begleitet Mama das liebe Kleine nach Kräften und coached es durch alle Herausforderung, die so anstehen, vom Streit im Kindergarten, über den ersten Liebeskummer, bis hin zur ach so schweren Berufswahl. Dabei sollte es die oberste Prämisse einer verantwortungsvollen Mutter sein, sich Schritt für Schritt überflüssig zu machen, sich quasi selbst abzuschaffen. Und was soll ich euch sagen, genauso verhält es sich auch mit meiner Vorstellung eines guten Coaches. Da ich mich natürlich in aller Bescheidenheit für einen guten Coach halte, stehe ich gegenwärtig einmal wieder kurz davor mich selbst abgeschafft zu haben. Das macht mich stolz und wehmütig zugleich. Das Team, das sich mir anvertraut hat, wird sehr bald ohne mich durch diese manchmal doch recht feindselige Welt navigieren und ganz unter uns und im Vertrauen: da ist ein Teil von mir der sehr gerne noch ein wenig klammern würde, weil es doch grade so einen Spaß macht! Aber nein, Mutti lässt jetzt los! Vorgestern habe ich eine letzte gemeinsame Retrospektive, also dieses Meeting, in dem man sich anschaut, wie die Zusammenarbeit läuft und ob man etwas verbessern oder verändern möchte, vorbereitet und natürlich habe ich mir in der Vorbereitung ausführlich Gedanken darüber gemacht, was ich diesem Team noch mitgebe. Es hat sich so eingebürgert, dass wir die Retros dieses Teams immer mit einem Zitat beenden, das ich mitbringe. -Manchmal etwas Lustiges und manchmal auch etwas, das zu Nachdenken anregen soll. Diesmal wird es ein Zitat sein, das der gute alte Sherlock Holmes seinem Dr. Watson zugeflüstert hat und das meine ganz persönliche Grundidee agilen Denkens vortrefflich zusammenfasst:

We all learn by experience and your lesson this time is that you should never lose sight of the alternative.

Weil unsere schöne neue Welt aus Alternativen besteht

Warum ich glaube, dass es genau diese Offenheit für Alternativen ist, die die Grundlage der Agilität sein soll? Ganz einfach: der Mensch ist über viele, viele Jahrhunderte hinweg sehr gut damit gefahren, überall Muster zu entdecken, das was er wahrnimmt, in vorgefertigte Schubladen einzuordnen, daraus feste Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, Kausalitäten astrein zu identifizieren und sich so durch eine sehr klare und eindeutige Welt zu schlagen. Unser ganzes Denken und Handeln ist auf eine solche Welt abgestimmt. Fakt ist jedoch, dass die Welt sich immer weiterentwickelt hat und gegenwärtig weit davon entfernt ist, eindeutig und überschaubar zu sein. In der Wirtschaftspsychologie wird diese Welt gerne als “VUKA” bezeichnet: ein Umfeld, das von hoher Dynamik, extremer Komplexität, Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Wissenslücken geprägt ist. Hält der Mensch in dieser Welt am altbekannten Kontrolldenken fest, steckt Wahrgenommenes in Schubladen und glaubt Kausalitäten 1A identifiziert zu haben, wird es schwierig, denn diese Art des Denkens passt einfach nicht mehr. In komplexen und dynamischen Situationen daran festzuhalten, ist nicht hilfreich. Eigentlich sogar im Gegenteil: zum einen geraten wir unter Kontrollstress, weil wir auf der Suche nach den alten Schubladen und den klaren Kausalitäten fast verzweifelt immer mehr Informationen sammeln, die uns jedoch nicht weiterbringen. Viel mehr verunsichern sie uns nur weiter und führen schließlich zu totaler Orientierungslosigkeit. Zum anderen führt das stakkato-artige Festhalten an diesem alten Kontrolldenken besonders in Situationen, die subjektiv empfunden von einem Informationsdefizit geprägt sind, nicht selten zu fatalen Fehleinschätzungen. Hierbei kann es dann dazu kommen, dass wir einzelne uns zur Verfügung stehende Fakten überbewerten (wie zum Beispiel die eher seltenen Nebenwirkungen einer generell sinnvollen und auch gut kontrollierten Impfung) und somit zu Panik und Hysterie neigen. Weil dieses altbewährte Kontrolldenken einfach nicht mehr funktioniert, haben Verschwörungstheorien und Fake News Hochkonjunktur!

Was hilft, ist möglichst viel Perspektiven und Alternativen in Betracht zu ziehen, um eine für sich bestmögliche Entscheidung zu treffen. Wichtig hierbei ist, dass keiner von uns das objektive Richtige oder Falsche kennt. Vielmehr ist es so, dass wir in einer Welt des “Vielleicht” leben.

Wer weiß was ein Shruggie ist?

Ich gebe zu, ich musste mich bei Menschen, die deutlich jünger sind als ich, danach erkundigen, wie dieses Emoji, das mit breit geöffneten Armen die Schultern zu den Ohren zieht, heißt! Shruggie eben. Und dieses Shruggie spiegelt für mich agiles Denken, eine agiles Mindset geradezu vortrefflich wider! Ja, ich sehe eure ungläubigen Blicke, aber ich versuche mich zu erklären und fange einfach mal bei den altgriechischen Anhängern der philosophischen Schule der Skeptiker an. Ihr seht, nachdem ich zweimal einfach nur über Träume geschrieben habe, wird es heut fast intellektuell! Also, die alten Skeptiker: ebenso wie Menschen mit agilem Mindset beschäftigen sie sich mit der sogenannten Erkenntnis der Dinge. Das heißt in “nicht-philosophisch”, dass sie sich nicht festlegen, welcher ihrer Gedanken der Wirklichkeit entspricht. Alles ist möglich und alles ist denkbar. Deshalb rechnen Skeptiker jederzeit mit starken Gegenargumenten, oder einer radikalen Veränderung der Gesamtsituation. Dadurch ist es fast unmöglich, den Skeptiker zu überraschen. Skeptiker verirren sich nicht, weil sie sich nicht festlegen. Vielmehr rechnen sie sogar damit, falsch liegen zu können. Unglaublich, wie wertvoll die Perspektiven und Meinungen anderer für Skeptiker sein müssen! Und wieviel innere Stabilität man dadurch erlangt, dass man weiß, dass man sich nicht irren kann, weil man sich eben nicht festlegt! Ja, alles ist möglich!

Die moderne Form dieser skeptischen Neutralität ist der Shruggie. Er steht stabil mitten im Chaos, ist sich nicht sicher, aber das ist OK für ihn, denn weder die sich stetig verändernde Welt, noch die gegensätzliche Meinung seines Gegenübers kann ihn aus der Ruhe bringen, weil beides elementare Teile seiner Welt sind. Nicht falsch verstehen, dem Shruggie ist seine Welt nicht egal! Ganz und gar nicht! Der Shruggie hat verstanden, dass er selbst in dieser Welt des Wandels sein wichtigster Anker ist! -Und zwar nicht, in dem er sich auf unveränderliche Meinungen und Aussagen festlegt, sondern indem er sich seiner Welt wertneutral und mit unendlich viel Offenheit zuwendet und dabei stetig Neues lernt und sich weiterentwickelt! Der Shruggie ist diese lernende Ich-AG, von der ich euch vor einigen Wochen berichtet habe. Die einzig wahre Antwort auf VUKA!

Ein Team voller Shruggies

Während ich meine Retro für dieses Team, das seine Wege zukünftig sicher höchst erfolgreich ohne mich gehen wird, vorbereitet habe, war es ein ziemlich guter Trost für mich, dass ich hier eine Gruppe von Shruggies zurücklasse, die gemeinsam ausgesprochen erfolgreich sein werden, weil sie so unterschiedlich sind und diese Unterschiedlichkeit wertfrei zum Wohle des Teams nutzen können. Deshalb wird die Mutti, äh sorry, der Coach nächste Woche nach der Retro auch nicht wehmütig sein, sondern total stolz! Mission complete! Und natürlich wird der Coach parallel auch daran arbeiten, selbst ein noch besserer Shruggie zu werden!

Eure Constance

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Alles ist möglich

Mein Leben als weltoffener Shruggie…