Der Humble Consultant - beraten in Demut und Bescheidenheit

Und weiter geht die wilde Fahrt

In den letzten Jahren teile ich in meinem Blog nicht nur fachliche Themen, sondern immer mal wieder auch persönliche Meilensteine. Mein letzter Meilenstein war meine Reise nach Maastricht im letzten Dezember und heute ist es erneut an der Zeit über einen nächsten wichtigen Schritt zu schreiben. Seit erstem April (und nein, es ist kein Scherz) arbeite ich hauptberuflich nicht mehr als Agile Coach, sondern als Organizational Effectiveness Consultant. Aus dem Coach wurde also über Nacht ein Consultant! Abgesehen davon, dass der Titel sich bestimmt recht spannend anhört, ist das vielleicht attraktivste an diesem Job, dass er sich noch entwickelt und die abschließende Tätigkeitsbeschreibung in Teilen noch im Werden ist. Ich darf also selbst gestalten. Für Manche recht chaotische Voraussetzungen, für mich ein Traum. Ich bleibe in meiner Abteilung, gemeinsam mit meinen bisherigen Kolleg:innen. Eigentlich ändert sich erst einmal nicht so viel und trotzdem war das Thema Rollenfindung oder genauer gesagt Rollendefinition bereits im Vorfeld ein recht Großes für mich. “Coach oder Consultant?”, war die große Frage.

Der Berater, der weiß wie es geht, sagt wie es geht und dann wieder verschwindet…

Irgendwo in meinem Kopf versteckt sich noch immer ein recht stereotypes Bild eines Beraters oder Consultants: natürlich männlich, teurer Anzug und noch viel teurere Uhr, stets busy, busy, busy. So rauscht er rein ins Unternehmen, analysiert Zahlen und Prozesse nach festen Schemata und erstellt basierend auf diesen Analysen Empfehlungen. Er spricht laut und lacht noch viel lauter mit seinen Berater-Freunden! Zahlen, Daten, Fakten! Gedacht wird in FTEs und nicht in Menschen. Kognitive oder emotionale Diversität lassen sich nicht berechnen oder analysieren und kommen deshalb nicht vor. Ängste übrigens auch nicht! In meiner kunterbunten Welt mit absolutem People-Fokus ist das kein besonders schmeichelhaftes Bild und sollte keinesfalls zum Selbstbild werden! Somit habe ich mich sehr intensiv damit beschäftig, welche Art Beraterin oder Consultant ich sein möchte oder sein kann.

Für mich ist jede Organisation, jede Organisationseinheit, jedes Team eine Art lebender Organismus, individuell und einzigartig, mit ganz individuellen Bedürfnissen und Gesetzmäßigkeiten. Schema-F gab es bei mir noch nie. Die Basis für den Erfolg dieser Organisationen sind aus meiner Sicht ihre Menschen, in ihrer Individualität, Diversität und Emotionalität. Dem gilt es auch in der Beratung Rechnung zu zollen. Erfolg bedeutet für mich heute mehr denn je, die Dynamik, Komplexität und Unklarheit unserer Zeit erfolgreich zu managen. Das geschieht nur bedingt durch Prozesse. Diese stellen lediglich eine gute Basis dar, weil sie das Potenzial haben, Menschen zu entlasten. Auch Algorithmen und zunehmende Digitalisierung haben nicht das Potenzial Dynamik und Komplexität zu managen. Sie können in Hinblick auf Komplexität vielleicht entlasten. In Hinblick auf die Dynamik unserer Zeit bin ich davon überzeugt, dass zunehmende Digitalisierung und Automatisierung die Dynamik noch zusätzlich befeuern. -Fast ein kleiner Teufelskreis! Welche Instanz bleibt nun also um durch erfolgreiches Managen von Dynamik und Komplexität für Erfolg zu sorgen? -Natürlich: der Mensch, bzw. Gruppen aus Menschen die ihr Wissen, ihre Perspektiven und ihre Erfahrungen erfolgreich im Team nutzen.

Der Mensch als Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme

Wie kann ich nun also ausgerechnet den Schlüsselfaktor Mensch in meinen Effizienzanalysen außer Acht lassen? Wie kann ich für unterschiedliche Systeme immer wieder die gleichen Lösungen anbieten? Dies soll mein Weg nicht sein! Ich möchte bei den Menschen beginnen. Ich möchte beraten, indem ich mich auf die Menschen in den jeweils betrachteten Systemen einlasse, mich mit ihnen auseinandersetze und ihnen einen Raum schaffe, ihre Lösungen zu finden. Als Beraterin möchte ich bescheiden, fast demütig sein, da ich mir sicher bin, dass niemand ein System so gut kennt, wie die Menschen, die Teil des Systems sind. Dementsprechend werden diese Menschen auch stets in der Lage sein, eine deutlich passendere Lösung für ihre jeweiligen Systeme zu finden, als ich. Ich habe Ideen, Erfahrung und Vorschläge, aber es wäre doch töricht zu glauben, ich hätte allgemeingültige Lösungen…

Und dann kam Edgar H. Schein

So haderte ich nun also mit mir selbst und meiner Rollendefinition, als mir ein Buch in die Hände fiel: “Humble Consulting - die Kunst des vorurteilslosen Beratens” von Edgar H. Schein. Der Titel hat mich direkt gefangen und auch der Umstand, dass der im Januar verstorbene Professor Emeritus des MIT Ed Schein als einer der Begründer dessen gilt, was wir heute Organisationsentwicklung oder Change Management nennen, sprach für sich. Ich habe es quasi über Nacht gelesen und kann nun voller Stolz verkünden: ich bin ein Humble Consultant, eine bescheidene und vorurteilslose Beraterin!

Hier für euch, die Kerngedanken aus Scheins Ansatz, die mich sofort vereinnahmt haben:

Die Voraussetzung für Humble Consulting ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Berater:in und Kund:in. Schein nennt sie Level 2 Beziehung, die aus seiner Sicht tiefer geht als eine klassische respektvolle Business-Beziehung (Level 1), jedoch mehr Abstand und Abgrenzung erlauben als intime Beziehungen, die Schein als Level 3 bezeichnet. Diese vertrauensvolle Beziehung ist die Basis dafür, dass Berater:in und Kund:in gemeinsam die wahren Sorgen und Probleme im betrachteten System ergründen können, offen und vorurteilsfrei. Im Rahmen dieses Prozesses ist es unabdingbar, dass der/die Berater:in offen und neugierig zuhört. Das Gehörte wiederum wird genutzt, um authentische Fragen zu stellen, die auch dazu dienen, ganz neue Denkprozesse in Gang zu bringen. Spätestens hier ist der Übergang zwischen Humble Consulting und (systemischen) Coaching fließend, empfiehl Schein doch an dieser Stelle die komplette Palette systemischer Fragen. So erarbeiten sich Kund:in und Berater:in gemeinsam und mit Hilfe eines Insider-Blickes und der Perspektive von außen ein tieferes Verständnis der Themen, die das System oder die Organisation einschränken.

Aus diesem gemeinsamen Verständnis entstehen im Sinne von Humble Consulting eine Intervention, die schrittweise oder iterativ erfolgt. Diese bedachtsamen Anpassungen entwickeln sich im stetigen Austausch mit den Menschen im betrachteten System.

Natürlich spielen auch im Rahmen dieses Beratungsprozesses Performance-Indikatoren oder Kennzahlen eine wichtige Rolle und auch prozedurale Abläufe, Schnittstellen und der Bereich Performance Management wird durchaus betrachtet. Deren Analyse stellt jedoch nicht den ersten Schritt meiner Arbeit dar, sondern ergeben sich ggf. aus der gemeinsamen Analyse mit meinen Kunden und Kundinnen. Die komplexen, oder eigentlich schon fast chaotischen Herausforderungen unserer Zeit benötigen eben ein menschenzentriertes Modell des Beratens, Coachens, Unterstützens.

Ja, ich denke so passt das für mich. So kann ich arbeiten. Schein schreibt, dass sein Modell des bescheidenen oder vorurteilslosen Beratens davon ausgeht, dass Berater:innen sich dafür engagieren, unterstützen zu dürfen, eine Menge echter Neugier mitbringen und eine fürsorgliche Grundeinstellung haben, was bedeutet, dass Humble Consultants die Bereitschaft haben, herauszufinden, was ihre Kunden und Kundinnen tatsächlich bewegt oder beunruhigt. Ich finde das passt doch ganz gut zu mir. Und was den teuren Anzug und die noch teurere Uhr anbelangt kann ich ja einfach mal schauen, was die Zukunft so bringt!

Habt einen wunderschönen Sonntag und bis in zwei Wochen.

Eure Constance

Coach oder consultant?

Oder vielleicht Consultant mit dem Mindset eines systemischen Coaches?