Stressmanagement im Business Coaching: Vom Druck im Job und den neuern Erkenntnissen der Neurowissenschaft

So klein in Anbetracht des Großen!

Am 21. Februar war für mich einer dieser Tage, die ich mein Leben lang erinnern werde. Mein aller größtes Vorbild hinsichtlich meiner Arbeit als Coach und Berater war zu Gast in meinem Workshop! Dr. Gunther Schmidt ist für mich nicht nur fachlich, sondern auch menschlich eine unglaubliche Inspiration. Im Rahmen eines Mindset Days für zwei Leadership Teams gab er sich die Ehre und hat uns alle in einer gut zweistündigen Session mit seinem Wissen, seiner Erfahrung und seiner Haltung bereichert. Er ist auf Spannungsfelder im Zusammenhang mit der Führungsrolle der Teilnehmenden eingegangen, die ich im Vorfeld mit der Gruppe erarbeiten durfte.

Eines dieser Spannungsfelder ist der Umgang mit Stress und Emotionen im professionellen Umfeld. Die bewusste Selbststeuerung und Selbstregulierung gepaart mit einer bewussten Abgrenzeng sind Themen, die sicher nicht nur Führungskräfte dieser Tage umtreiben. Neben anderen Spannungsfeldern weicht auch das Thema Homeoffice die Grenzen zwischen Berufs- und Privatwelt auf. Überlastung gepaart mit dem Ruf nach Resilienz-Trainings und Coachings schallt durch die Gänge virtueller und physischer Büros und Heerscharen von Coaches geraten zunehmend in die Position ihre individuellen Kunden und auch ganze Teams oder Strukturen zum Themen Stress und Stressregulation abzuholen. Grund genug meine beiden liebsten diesbezüglichen Konzepte mit euch zu teilen. -Zumal ich mich auf Grund meiner Vergangenheit als Human Factors Trainer in der Luftfahrt schon seit vielen, vielen Jahren mit genau dieser Thematik auseinandersetze. Denn eine Flugzeugbesatzung, die im Stress den Überblick verliert, evakuiert sicher keinen brennenden Flieger strukturiert und innerhalb kürzester Zeit, wie vor einigen Wochen in Tokio. Und sicher wäre gepaart mit mangelndem Stressmanagement und mangelnder Selbstregulierung eine Landung wie damals auf dem Hudson River in die Hose gegangen.

In dieser Woche stelle ich euch den Ansatz von Steven Porges dazu vor und in zwei Wochen gibt es die diesbezüglichen Konzepte der Stanford-Professorin Kelly McGonigal.

Psychosomatisch oder somato-psychisch?

Betrachten wir uns das Phänomen Stress, das von uns Menschen häufig zunächst eher als psychisches Phänomen wahrgenommen wird, einmal genauer, handelt es sich dabei in erster Linie um eine physiologische Reaktion basierend auf unserer oft unbewussten Interpretation unserer Wahrnehmung. Und, ganz wichtig, diese körperliche Reaktionskette hat uns über Jahrtausende das Überleben gesichert, ist also keineswegs schlecht! So kennt unser Körper zwei grundsätzlich unterschiedliche Zustände: Ruhe und Aktivierung. Im Ruhezustand ist der Teil unseres Nervensystems aktiv, das wir parasympathisches Nervensystem nennen. In diesem Zustand atmen wir automatisch tief in den Bauch, unser Herz schlägt langsam und regelmäßig, alle Teile unseres Körpers sind gut durchblutet, unsere Wahrnehmung ist breit. Wir sind in Verbindung mit unseren Mitmenschen und unser Verdauungssystem ist aktiv. Im Zustand der Aktivierung, dem sogenannten Arousal, arbeitet unser sympathisches Nervensystem auf Hochtouren. Gesteuert über Hormonausschüttung atmen wir wie von Zauberhand schneller und flacher in die Brust, unser Herz schlägt schneller, während die großen Muskeln gut durchblutet werden (damit wir schneller rennen oder besser zuschlagen können) zieht sich das Blut aus den äußeren Extremitäten zurück (damit wir nicht direkt verbluten, wenn der Säbelzahntiger uns die Hand abbeißt). Selbst die Zusammensetzung unseres Blutes ändert sich. Auch unsere Verdauung wird unterdrückt. Das merken wir am trocknen Mund, denn Spucke ist die erste Verdauungsinstanz, oder auch daran, dass wir einfach nicht “müssen” müssen. Wäre auf der Flucht vorm Säbelzahntiger ja auch irgendwie ungünstig.

Wichtig ist zu verstehen, dass unser Körper für beide Zustände ausgelegt ist und Stress per se keinesfalls schädlich ist. Im Gegenteil, eine gewisse Aktivierung macht uns aufmerksamer und weniger fehleranfällig. Was aber schädlich ist, ist die Abwesenheit vom physiologischen Zustand der Entspannung. Ist der Herzschlag dauerhaft erhöht wird der permanent überlastete Herzmuskel krank. Ist die Verdauung unterdrückt und wir schieben Futter nach drohen Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes. Und ist die Wahrnehmung dauerhaft fokussiert, geht uns links und rechts vielleicht etwas Wichtiges durch die Lappen und wir hören auf mit den Menschen um uns herum in Verbindung zu gehen.

Die Steuerung dieser beiden Systeme läuft unbewusst oder autonom ab. Unsere Wahrnehmung sammelt Reize ein und bestimmte Teile unseres Gehirns, von denen die sogenannte Amygdala, unser Mandelkern oder Angsthirn, wahrscheinlich der bekannteste ist, aktivieren über entsprechende Hormonausschüttung entweder den einen oder den anderen Zustand.

Die Polyvagal Theorie nach Steven Porges

Nun könnte man also meinen wir sind diesem Hormon-Wirrwarr in unserem Körper hilflos ausgeliefert. Ein gewisser Steven Proges hat im Rahmen seiner Polyvagal Theorie beschrieben, dass nicht nur Hormonausschüttung einen körperlichen Zustand hervorrufen kann, sondern auch ein bewusst eingenommener körperlicher Zustand Einfluss auf die Hormonausschüttung haben kann. Wir können unser Gefühlserleben also bewusst konstruieren und müssen keine Sklaven unsere Gemütszustandes sein.

Aber mal von vorne: Porges unterscheidet zwischen drei unterschiedlichen Zuständen: Dem Ruhezustand, dem Erregungszustand und dem Zustand der Übererregung.

Im Ruhezustand bin ich entspannt, ich ruhe in mir selbst, bin in Kontakt mit mir, meinen Mitmenschen und meiner Umwelt, bin achtsam, neugierig, habe eine breite und bewusste Wahrnehmung und fühle mich geerdet.

Im Erregungszustand gibt es zwei Wege, die ich einschlagen kann: Kampf oder Flucht! In jedem Fall fokussiert sich meine Wahrnehmung. Ich gerate in einen Tunnel. Heißt der Tunnel Kampf kommt es zu Gefühlen wie Frust, Rage, Wut, Aggression. Im Fluchtmodus herrschen Gefühle wie Sorgen bis hin zu Angst oder Panik vor. Insgesamt bringt mich dieser Zustand in Bewegung, entweder nach vorne oder nach hinten. Beides ist hilfreich. Das eine macht mich durchsetzungsfähiger und das andere sorgt für klugen Rückzug. Überhaupt ist Angst eine ausgesprochen große Kompetenz. In der Evolution gab es die Ängstlichen und die Toten… Wir sind das genetische Überbleibsel der Ängstlichen, denn die Toten konnte ihre Gene häufig einfach nicht mehr weitergeben! Die moderne und sozial adäquate Form der Flucht ist heutzutage übrigens der innere Rückzug!

Der Zustand der Übererregung führt zu einer Art Lähmung aus Überforderung. Es kommt zu Gefühlen wie Hoffnungslosigkeit, Orientierungslosigkeit, stumpfsinnige Taubheit, Deprimiertheit, Scham und Hilflosigkeit. Es gibt Menschen, die in diesem Zustand sogar in Ohnmacht fallen. Evolutionshistorisch betrachtet hat der Körper sich so darauf vorbereitet möglichst schmerzfrei zu sterben. Während im Erregungszustand alles in mir schreit “ich kann!”, schallt es im Zustand der Übererregung in meinem Kopf “ich kann nicht!”.

Zu Zeiten, in denen wir vorzugsweise in Höhlen lebten und uns die Köpfe einschlugen, machte das alles sicher Sinn. Die Herausforderung heute ist, dass dieser Teil im Gehirn, die Amygdala, nicht zwischen konkreten und abstrakten Gefahren unterscheidet. Es gibt nur absolute Sicherheit und absolute Gefahr. Der Kollege, der seine gegenteilige Meinung festentschlossen vorträgt ist für die Amygdala ähnlich gefährlich wie der Säbelzahntiger… Ich kämpfe, oder flüchte oder fühle mich ohnmächtig!

Emotionale Steuerung über den Vagusnerv

Diese von Porges beschriebenen und von uns erlebten Zustände werden über einen großen Nerv, der sich durch unseren ganzen Körper zieht, gesteuert. -Den sogenannten Vagusnerv. Diesen kann man im Prinzip in zwei Teile teilen. Auf unserer Körpervorderseite läuft der ventrale Vagusnerv und auf der Rückseite der dorsale Vagusnerv. Der ventrale Vagusnerv ist hierbei für Entspannung und Sicherheit zuständig, der dorsale für Erregung, Anspannung, Kampf, Flucht und Freeze. - Das erklärt übrigens warum sich bei Stress bei mir der Nacken zuzieht. Mein dorsaler Vagusnerv gibt Gas! Und nein, die meisten Formen von Rückenschmerzen kommen nicht vom Stress, sondern von mangelnder Bewegung. -Sagt mein Osteopath! Aber im Stresszustand kann der dorsale Vagusnerv Muskulatur auf der Körperrückseite zusammenziehen, was dann auch zu Rückenthematiken führt…

Bis hierher ist alles ganz interessant, aber nicht revolutionär. Allerdings hat Porges nachgewiesen, dass man die beiden Teile des Vagusnervs bewusst ansteuern kann und somit sein Arousal, also die Intensität des Erregungszustandes oder platt gesagt das Stresslevel regulieren kann. Ich kann meinen Körper also bewusst nutzen um Einfluss auf den Hormon-Cocktail zu nehmen, der meinen Körper überschwemmt.

Für gewöhnlich ist die Idee, sein Stresslevel zu senken. Das heißt ich muss den ventralen Vagusnerv ansteuern. Dies kann ich auf unterschiedliche Arten tun. Ich kann bewusst tief in den Bauch atmen. Hierfür gibt es ganz unterschiedliche Atemtechniken. Die Yogis unter euch wissen genau wovon ich spreche. Ist das mit der Atmung nicht mein Ding, kann ich die Tatsache nutzen, dass mein ventraler Vagusnerv direkt durch Gesicht geht. Ich kann meine Mundwinkel nach oben ziehen und meinen Entspannungsnerv bewusst stimulieren. Dieser meldet dann ans Gehirn: “Hey, hör auf diese ganzen Stresshormone auszuschütten. Unser Mensch ist entspannt. Sie lächelt sogar!”. Eine dritte Möglichkeit, die ich habe, ist mich ganz bewusst im Raum zu orientieren, aus dem Tunnel raus zu gehen, jeden einzelnen Menschen bewusst wahrzunehmen, in Kontakt zu treten. - Bei Bühnenangst ist das übrigens rein neurowissenschaftlich betrachtet hilfreicher, als sein Publikum als große graue Masse zu sehen. Das stimuliert nur den dorsalen Vagusnerv. Und vor einiger Zeit habe ich begonnen mich mit einer vierten Möglichkeit der Stimulation meines ventralen Vagusnervs zu beschäftigen: Mit Klopfakkupressur. Allerdings setze ich das in meinen Coachings noch nicht ein, da ich mich gerade noch in einer Phase der Selbsterprobung befinde.

So viel zur Entspannung. Es gibt, und das mag der ein oder andere nicht so recht glauben, auch Situationen, in denen Menschen bewusst für Anspannung sorgen wollen, also bewusst den dorsalen Vagusnerv stimulieren. Genau das tun zum Beispiel Sportler gerne direkt vorm Wettkampf, indem sie sich bewusst in einen Tunnel begeben, sich abschotten um rein physiologisch die Extraportion Energie und Blut in den großen Muskeln zu haben, um absolute Höchstleistungen zu erbringen. -Quasi bereit für den (Wett-) Kampf!

Wie arbeitet man damit als Business Coach?

Was mache ich in meiner Rolle als Business Coach nun mit diesen Erkenntnissen der Neurowissenschaft? Ganz einfach: Schritt für Schritt arbeiten. Damit meine Kunden oder Coachees ihr vagales System bewusst regulieren können, ist es im ersten Schritt wichtig überhaupt erst einmal bewusst wahrzunehmen, in welchem Zustand sie sich befinden. Hierfür arbeite ich mit einem kleinen Self-Assessment-Sheet. All jene, die Lust haben, mit meiner Begleitung Möglichkeiten zur individuellen Stressregulierung zu entdecken, füllen im ersten Schritt für jeden der Zustände (Entspannung, Kampf, Flucht, Freeze) ein kleines Arbeitsblatt aus, indem sie ihre Gefühle im jeweiligen Zustand beschreiben, ihre Gedanken, ihre körperlichen Wahrnehmungen, ihre Einstellung zur Welt und was sie in diesem Zustand hält. Wichtig ist sich mit allen diesen Punkten zu beschäftigen um die möglichst genaue Unterschiedlichkeit dieser Zustände herauszuarbeiten. Entweder nehmen sich meine Coachees dieses Arbeitsblatt mir nachhause und füllen die einzelnen Seiten immer dann aus, wenn sie einen dieser Zustände erlebt haben, oder ich arbeite mit ihnen in einer leichten Trance um alle relevanten Parameter abzurufen. Im zweiten Schritt erarbeiten wir gemeinsam, welche Strategien die richtigen sind um zwischen den Zuständen zu springen, bzw. um in den meisten Fällen in einen entspannteren Zustand zu kommen. Wichtig ist, dass die gewählten Strategien aus Sicht meiner Coachees selbstwirksam sind und eigenständig umgesetzt werden können. Danach muss nur noch geübt werden.

Das Wichtigste zum Schluss

In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig immer und immer wieder zu betonen, dass selbst das beste aktive Stressmanagement uns nicht zu Wonder Woman oder Superman macht. Unserem Körper sind absolute physiologische Grenzen gesetzt. Ja, wir können größte Erregungszustände aushalten. Dafür brauchen wir jedoch den Ausgleich der Entspannung. Menschen brauchen Ruhepause. Wir sind keine Roboter. Wir sind der Schlüssel zum Erfolg unserer Systeme. Und auch wenn unsere Systeme 24/7 laufen können, braucht der Schlüssel zum Erfolg regelmäßige Pausen um die Akkus aufladen zu können.

So viel zur Polyvagal Theorie. Es gibt einen weiteren, ganz anders gelagerten Ansatz in der aktuellen Stressforschung, den ich euch in meinem nächsten Artikel in zwei Wochen vorstellen möchte. Die Stanford-Professorin Kelly McGonigal nähert sich der Thematik Stress über das Thema Mindset an. Nicht weniger spannend als die Polyvagal Theorie. Zumal McGonigal gemeinsam mit ihrer Kollegin Alia Cums einen Weg gefunden hat, Mindset physiologisch nachweisen zu können. So sagt sie: “Wenn Sie sich dazu entscheiden, Ihre Stressreaktion als hilfreich zu betrachten, schaffen Sie die biologische Voraussetzung für Mut!”. -Klingt spannend? Dann lest auch in zwei Wochen wieder rein.

Eure Constance

Wohin des Weges?

Orientieren und Atmen! Atmen und Lächeln...