Für Jarin: „… hab nen Luftballon gefunden. Denk an dich und lass ihn fliegen…“

Wenn es nur noch Verlierer gibt…

In den beiden Wochen seit meinem letzten Blog ist eine Menge passiert. Während ein weiterer furchtbarer Krieg ausgebrochen ist, habe ich gleich vier Workshops zum Thema Konfliktmanagement gegeben. Viermal habe ich davon erzählt, dass die neunte und letzte Stufe auf Glasls Skala zur Konflikteskalation “Gemeinsam in den Abgrund” heißt und gleich viermal habe ich erklärt, dass wir ab diesem Grad der Eskalation sogar eigene Verluste in Kauf nehmen, solange der andere noch etwas mehr verliert. Ab einem gewissen Punkt gibt es nur noch Verlierer.

Viermal habe ich erklärt, wie das große Harvard-Konzept zur Konfliktverhandlung in Nahost offensichtlich gescheitert ist. Und vielleicht ist es Israel in Anbetracht des Grauens auch nicht mehr zumutbar, die für eine Verhandlung notwendigen Kompromisse einzugehen. Wie auch, bei so vielen Toten, bei enthaupteten Kindern, entführten Babys…? Es steht mir nicht zu, an dieser Stelle zu bewerten oder zu urteilen wo dieser Konflikt seinen Ursprung nahm. Ich bin einfach nur traurig und frage mich, wohin diese Welt steuert. - Diese wunderschöne Welt, unser aller Zuhause.

Am Ende meiner Weiterbildung bei Richard Bandler vor zwei Wochen hat er davon erzählt, dass er, der auch die NASA berät, eines der ersten Fotos zuhause hat, das die ersten Menschen auf dem Mond gemacht haben. Es ist ein Bild unserer Erde. Die ersten Menschen auf dem Mond haben nicht den Mond fotografierte, sondern die Erde. Richard Bandler hatte die Möglichkeit, die Crew zu diesem Foto zu befragen und sie sagten, dass ihnen die absolute Schönheit der Erde in diesem Moment bewusstwurde und sie nicht anders konnten, als den schönen blauen Planeten im Bild festzuhalten. Und wir sitzen hier unten und machen alles kaputt…

Eine Reise in die Vergangenheit

Die Geschehnisse in Israel haben mich in den letzten Tagen immer wieder in meine eigene Vergangenheit katapultiert, 25 Jahre zurück in eine wilde Zeit geprägt von Neugier, Freiheit und Mut. Nachrichten scheinen manchmal (zum Glück) so weit weg zu sein. Der Konflikt in Israel ist mir jedoch seit 25 Jahren recht nah. Ich war 19 und auf meiner großen Rucksackreise. Irgendwo im Nirgendwo stand er da: Jarin! Ich war fünf Tage lang schockverliebt. Er auch. Er war Mitte zwanzig, Israeli und ziellos. Ich erinnere mich, wie wir Nächte lang geredet haben, geredet, geträumt, gelacht und geweint. Jarins Großeltern väterlicherseits waren deutsche Holocaustüberlebende. Er sprach fließend Deutsch. Seine Mama war israelische Christin. Er verlor seine Großeltern, seine Eltern und sein große Schwester in einem Attentat der Hamas, in einem Krieg, den er nicht als seinen sah. Auf dem Papier war er zwar Israeli, aber Christ, einen deutschen Pass hatte er zudem. Wo er hingehörte wusste er nicht mehr.

Seit dem Tag, an dem er seine Familie verloren hatte, war er ziel- und heimatlos unterwegs. Zurück nach Israel wollte und konnte er nicht. Er galt als fahnenflüchtig. Wohin er wollte wusste er auch nicht. Er sprach von Hamburg, weil er das Meer liebte und seine Großeltern trotz ihrer schrecklichen Vergangenheit immer wieder positiv von Deutschland gesprochen haben.

So reisten wir ein kleines Stück gemeinsam. Ich genoss die Zeit mit ihm so sehr, wissend, dass sie begrenzt sein würde. Ich erinnere mich noch gut an seine warmen braunen Augen, in denen selbst in den fröhlichsten und unbeschwertesten Momenten immer auch Traurigkeit und Leere zu sehen war. Er war nicht wütend, nicht auf die Hamas, nicht auf Israel. Er war leer. Er sagte immer, es sei nicht sein Krieg, er wollte einfach nur in Frieden leben, so wie seine Familie, seine Eltern und Großeltern es wollten. Er hasse nicht, er könne nicht hassen. Nur lieben könne er auch nicht mehr.

Wir verabschiedeten uns Mitten in Irland, in Kilkenny. Am letzten Abend tranken wir noch ein gemeinsames Guinness und er ließ mir einen Spruch in meinem Reisetagebuch da: “Ich wandle einsam, mein Weg ist noch lang. Hinauf zum Himmel schau’ ich so bang. Kein Stern von oben blickt niederwärts, einsam der Himmel und traurig mein Herz. Mein Herz und der Himmel - sie plagt gleiche Not: Sein Glanz ist erloschen, meine Liebe ist tot.” Keine Ahnung, wen er da zitierte. Ich zitiere seitdem ihn.

Krieg und Frieden

Es war eine intensive Zeit, damals mit 19. Zum ersten Mal habe ich eine wirkliche Idee von Krieg bekommen. Zum ersten Mal konnte ich unmittelbar spüren, was Krieg tut. Er zerstört und zerreißt. -Nicht nur die aktiven Akteure, sondern alle, die nicht weit genug weg sein können. Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Mit diesem Gedanken bin ich weitergereist. Der Zufall wollte es, dass ich nur wenige Wochen später an der irischen Westküste einen waschechten und zwischenzeitlich begnadigten Terroristen kennengelernt habe. Ein alter, gebrochener Mann, der sein Leben in Guinness und Whisky ertränkte und mir erklärte, dass er damals gemeinsam mit seinen Brüdern bei der IRA so sehr damit beschäftig war, für eine bessere Welt und ein besseres Leben für seine Familie, Frau und Kinder, zu kämpfen, dass er vergessen habe, eine Familie zu gründen. Nun sei er alt, einsam und habe seine besten Jahre an den Kampf verschenkt. Ich fragte mich wie viele Jarins er wohl zurückgelassen hatte und trotzdem tat er mir leid. Er hat von einer besseren und aus seiner Sicht gerechteren Welt geträumt und sich dabei verzockt. Er war blind vor Hass.

Gut und Böse, Richtig und Falsch

Damals habe ich beide Seiten erlebt und habe für mich begriffen, dass richtig und falsch, Gut und Böse häufig eine Frage der Perspektive ist. Die einzig absolute Macht ist für mich die Liebe, Liebe und Empathie. Betrachte ich mir typische Konfliktspiralen spielt der Verlust der Empathie im Rahmen der Eskalation eine große Rolle und es macht mir Angst zu sehen, mit wie wenig Empathie die Terroristen der Hamas Menschen auf schrecklichste Arten getötet haben. Ebenso macht es mit Angst, dass Israel sich offensichtlich gefühlt immer weniger Empathie mit all den unschuldigen Menschen in Gaza leisten kann. Natürlich frage ich mich, wo das alles hinführen soll, auch geopolitisch betrachtet…

Vielleicht sollten wir alle gemeinsam auf den Mond fliegen, um zu sehen wie wunderschön und beschützenswert unsere Erde und unser Leben auf unserer Erde ist. Probleme werden kleiner je weiter man weg ist…

Im Radio läuft gerade Grönemeyer “Kinder an die Macht”: Die Armeen sind aus Gummibärchen, die Panzer aus Marzipan. Kriege werden aufgegessen, einfacher Plan, kindlich genial…

Ich denke an Jarin. Jarin bedeutet “er wird froh sein”. Ich hoffe er hat einen Ort gefunden um zur Ruhe zu kommen, froh zu sein, vielleicht ja sogar in Hamburg. Er liebte Nenas 99 Luftballons und beharrte darauf, dass Kriege keinen Platz für Sieger ließen. Heute Abend werde ich wieder einmal die Nachrichten schauen und wissen, dass er recht hatte. Und gleichzeitig wird mein Herz auch all jene verstehen, die aus Trauer um ihre Liebsten erfüllt von Rachegefühlen auf der Eskalationsskala von Glasl weiter gemeinsam in den Abgrund steuern. Es ist eben nicht schwarz-weiß.

Habt einen friedlichen Sonntag voller Liebe.

Euere Constance

Gebt den Kindern das Kommando. Sie berechnen nicht was sie tun.

Es gibt kein Schwarz, es gibt kein Weiß…